Als Residenzpflicht wird die Pflicht für Flüchtlinge im Asylverfahren bezeichnet, die sie dazu zwingt, in dem Landkreis zu bleiben, dem sie zugewiesen sind. Residenzpflicht schränkt die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen in Deutschland radikal ein, sie ist ein rassistisches Apartheidsgesetz.
Seit Jahren kämpfen Betroffene, Flüchtlingsselbstorganisationen und antirassistische Gruppen für die ersatzlose Abschaffung dieses Gesetzes. In den letzten Monaten ist einiges in Bewegung geraten.
Lockerungen in einigen Bundesländern
Den Anfang haben die Länder Berlin und Brandenburg gemacht. Im Juli 2010 wurden die räumlichen Beschränkungen des Aufenthalts von Asylsuchenden und geduldeten Flüchtlingen in der Region Berlin-Brandenburg partiell aufgehoben. Asylsuchende können sich seitdem ohne Antrag im gesamten Land Brandenburg bewegen; für die Gültigkeitsdauer der Aufenthaltsgestattung bzw. Duldung können Asylsuchende und geduldete Flüchtlinge eine Dauerverlassenserlaubnis nach Berlin beantragen.
Die Flüchtlingsräte Berlin und Brandenburg haben nach einer Evaluation der neuen Regelung zwar die Richtung begrüßt, jedoch festgestellt, dass ein Teil vor allem der gedulteten Flüchtlinge von der „Reisefreiheit“ ausgeschlossen wird.
Nachdem am 17. Dezember 2010 der Bundesrat den Weg frei gemacht hat, können die Landesregierungen seitdem den Aufenthaltsbereich von Asylsuchenden auf das gesamte Bundesland erweitern. Dem weitergehenden Antrag des Landes Bremen, die Residenzpflicht ganz abzuschaffen, mochte der Bundesrat nicht folgen.
Bereits vier Tage später hat das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen eine Verordnung erlassen, die genau das regelt: Asylsuchende dürfen sich seitdem in NRW frei bewegen.
Im Januar zog das Land Sachsen nach und hob die Beschränkungen der Bewegungsfreiheit auf – allerdings nur für Geduldete. Wie schon in Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen wurden jedoch Ausnahmeregelungen geschaffen für Flüchtlinge, die „ihrer MItwirkungspflichten nicht nachgekommen sind“. Damit wird die Residenzpflicht von einem allgemeinen Abschreckungsinstrument zu einem gezielten Sanktionsmittel.
Aufgehoben wurden die Beschränkungen dann nach und nach auch in Sachsen-Anhalt (März 2011), Schleswig-Holstein (Mai 2011), Rheinland-Pfalz (August 2011) und Niedersachsen (September 2011).
In Thüringen entschloss sich die Landesregierung zu einer kleinen Lösung: so dürfen sich dort Asylsuchende nicht im gesamten Bundesland bewegen, sondern lediglich „in dem Bezirk der zugewiesenen Ausländerbehörde, vorübergehend im Bezirk angrenzender Ausländerbehörden sowie im Gebiet mindestens einer kreisfreien Stadt“. Auch in Bayern ist der Bewegungsradius für Flüchtlinge lediglich etwas größer geworden: neue Grenzen sind seit Ende 2010 die Regierungsbezirke. In Mecklenburg-Vorpommern gilt Ähnliches.
Nicht Neues aus dem Bundestag…
Am 21. September diesen Jahres war die Residenzpflicht dann Thema im Bundestag. Die SPD-Fraktion, die die Residenzpflicht 1982 eingeführt hatte, hat einen Antrag zur weitgehenden Abschaffung derselben eingebracht, der erwartungsgemäß von der schwarz-gelben Mehrheit abgelehnt wurde.
Dabei wurde mal wieder deutlich dass die Volksvertreter_innen in der Regel keine Ahnung haben, worüber sie eigentlich abstimmen: so vermischten mehrere Redner der Union die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in einem bestimmten Landkreis mit dem Verbot, diesen zu verlassen.
Den Vogel jedoch schoss der schwäbische Freidemokrat Hartfrid Wolff ab. Der bislang üblichen Rechtfertigung für die räumliche Aufenthaltsbeschränkung – Asylsuchende und Geduldete sollten für die Behörden jederzeit erreichbar und greifbar sein – fügte er eine neue, durchaus originelle Begründung hinzu. Ihn scheint ein Satz im SPD-Antrag besonders provoziert zu haben: Die räumliche Aufenthaltsbeschränkung führe »für die Betroffenen zu einer starken Einschränkung der Bewegungsfreiheit und zu unerwünschter sozialer Isolation.« Selbst der CSU-Vertreter hatte eingeräumt, dass die Unterbringung im »ländlichen Raum« eine »gewisse Härte« darstelle. Wolff hält das für »absurd«: »Die Residenzpflicht hilft mit, dass die Betroffenen sich nicht in wenigen Ballungsräumen ballen und ethnisch homogene Milieus bilden können. Nicht zuletzt der Bildung von Parallelgesellschaften kann so entgegengesteuert werden.« Wir erfahren: Die ›Residenzpflicht‹ fördert die Integration.
(Quelle: residenzpflicht.info)
Einen Überblick über alle Regelungen bzw. Änderungen zur Residenzpflicht gibt es bei PRO ASYL: http://www.proasyl.de/fileadmin/proasyl/fm_redakteure/Newsletter_Anhaenge/175/ueberblick_bundeslaender_AG_Residenzpflicht.pdf (Stand: September 2011)
Sondergesetze bleiben rassistisch
Solange die Residenzpflicht nicht generell und ausnahmslos abgeschafft wird, bleibt sie als rassistisches Sondergesetz wirkmächtig, das Menschen ungleich behandelt und Gruppen von Menschen stigmatisiert und benachteiligt.
Dass und wie solche Diskriminierungen weiter fortbestehen beschreibet die Initiative Togo Action Plus e.V. aus Sachsen-Anhalt. So wird weiterhin vielen Flüchtlingen dort die Bewegungsfreiheit verwehrt, andere können ihr theoretisches Recht faktisch nicht wahrnehmen, u.a. weil die Ausländerbehörden für Genehmigungsscheine 10 € Gebühr verlangen. Die Polizei setzt ihre rassistischen Kontrollen fort und handelt z.T. gegen geltendes Recht, indem sie explizit nach einer Verlassenserlaubnis fragt, auch wenn sich Geflüchtete innerhalb der Landesgrenzen Sachsen-Anhalts bewegen.
So fordert die Initiative in einem offenen Brief an den Innenminister Sachsen-Anhalts, Herrn Holger Stahlknecht, konsequenterweise nicht nur die Abschaffung der Residenzpflicht, sondern auch ein Ende der rassistischen Polizeikontrollen und der Lagerunterbringung.
Die 10 € – Gebühr beschäftigt derweil auch die Gerichte: Seit 2007 klagt Komi E. dagegen und bekam vom Verwaltungsgericht Halle (Saale) Recht. Laut Urteil vom 26. Februar 2010 ist das Erheben von Gebühren für die Erteilung einer Verlassenserlaubnis rechtswidrig. Trotz dieses Urteils werden in der Praxis der Ausländerbehörden teilweise noch immer 10 € von dem wenigen Bargeld Geflüchteter einkassiert. Nun möchte der Landkreis Saalekreis im Berufungsverfahren die Gebühr scheinbar rechtskräftig machen. Am Mittwoch, den 26. Oktober 2011 um 11:00 Uhr startet der Prozess der Ausländerbehörde gegen Komi E. vor dem Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt (Magdeburg). Die Initiative Togo Action Plus e.V. lädt Aktivist_innen, Interessierte und die Presse zu diesem Prozess ein, in dessen Anschluss um 13:00 Uhr eine Pressekonferenz vor dem Justizzentrum und eine Demonstration um 14:30 Uhr geplant sind.
Die Residenzpflicht dient überdies weiterhin dazu, eine Organisierung von Flüchtlingen zu verhindern. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erklärte, dass Asylsuchenden „kein Recht auf politische Betätigung zusteht“, Urlaubsanträge für Treffen, Demonstrationen und Kongresse werden aus diesem Grund regelmäßig abgelehnt. Unter dem Motto „Break Isolation“ wehren sich Flüchtlinge in Thüringen seit einem Jahr gegen den Zwang zum Leben im Lager und das Verbot, sich frei über Landkreisgrenzen hinweg zu bewegen. So gelingt es immer wieder, die skandalösen Vorfälle und Bedingungen in den Flüchtlingslagern öffentlich zu machen. Vorläufiger Höhepunkt der „Break Isolation“-Kampagne ist eine Demonstration am 22. Oktober 2011 in Erfurt (Aufruf: http://breakisolation.blogsport.de/2011/09/23/call/).