Demonstration 20 Jahre nach dem Brandanschlag in Mölln am „Bauhof“, in der Nähe des Möllner Bahnhofs.
„Ich kann es immer noch nicht fassen, was am 23. November 1992 mit meiner Familie geschehen ist. Es ist so schrecklich und grausam. Meine Frau Bahide ist tot, Enkelin Yeliz und Ayşe Yilmaz sind tot. Meine Schwiegertöchter sind […] behindert und haben Schmerzen, die Familie ist überhaupt nicht mehr, was sie war. Meine Frau Bahide war der Mittelpunkt meiner Familie – meines Lebens.“ (Nazim Arslan am 23. Juni 1993 vor dem II. Strafsenat, Oberlandesgericht Schleswig)
Mölln ’92: Gedenken und Anklagen!
Am 23. November 1992 werden im Luftkurort Mölln, Schleswig-Holstein, Molotowcocktails in zwei Wohnhäuser geworfen. In der Ratzeburger Straße konnten die Bewohner*innen knapp ihr Leben retten, bei dem Anschlag in der Mühlenstraße gingen die Täter brutaler vor. Sie kippten Benzin in das Treppenhaus, entzündeten es und warfen gegen die Rückseite des Hauses einen Molotowcocktail, um die Fluchtwege zu versperren.1
In den Flammen der faschistischen Anschläge starben die 51-jährige Bahide Arslan, die zehnjährige Yeliz Arslan und die 14-jährige Ayşe Yilmaz. Was für ein Leben diese drei Menschen heute führen würden, können wir nicht erahnen. Zusammen mit ihren Familien und Freunden möchten wir ihnen in diesen Tagen gedenken. Im gleichen Atemzug wollen wir jenen, die damals wie heute ihre eigene Rolle in diesem Drama nicht verstehen wollen, zurufen: „Hört auf mit eurem tatenlosen Gedenken! Es ist eine Entehrung der Ermordeten!“
Für die Taten verantwortlich zeigten sich die beiden bekannte Neonazis Michael Peters und Lars Christiansen. Beide sind nach Verbüßung ihrer Jugendstrafen wieder auf freiem Fuß. Besonders brisant ist dabei, dass Peters und Christiansen bereits bei den Anschlägen in Rostock-Lichtenhagen beteiligt waren. Trotz mehrerer versuchter Anschläge im September in Pritzier, Kollow und Gudow, bei denen Peters das in Rostock-Lichtenhagen erworbene Wissen zusammen mit anderen Kameraden anwenden wollte, wurde ein Haftbefehl gegen ihn eine Woche vor den Brandanschlägen auf die beiden Wohnhäuser in Mölln abgelehnt. 2
Im August 1992 rottete sich in Rostock-Lichtenhagen ein deutscher Volksmob vor der „Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber“ (ZaST) zusammen. Zu dieser Zeit befanden sich vor dieser rund 400 Menschen, vornehmlich aus Rumänien auf der Suche nach einem besseren Leben geflohen, die aufgrund fehlender Aufnahmekapazität unter menschenunwürdigen Bedingungen unter freiem Himmel kampieren mussten. Auf die Forderung nach einer menschenwürdigen Unterbringung der Asylsuchenden entgegnete der damalige Innensenator Rostocks, Peter Magdanz: „Wenn wir weitere Unterkünfte zur Verfügung stellen, kommen noch mehr Asylsuchende. Das zeigt die Erfahrung.“3
Mehrere Tage lang belagerte der Volksmob aus Neonazis, rechten Jugendlichen und „den netten Nachbar*innen von nebenan“ die ZaST und griffen jenes mit Steinen, Flaschen und Brandsätzen an. Sie schafften es schließlich, die Asylsuchenden aus „ihrem Viertel“ zu verjagen. Danach wurde ein überwiegend von vietnamesischen DDR-Vertragsarbeiter*innen bewohnte Unterkunft unter dem Jubel von rund 2500 Bürger*innen angegriffen. Der Staat griff erst nach mehreren Tagen ein – doch statt die Täter*innen zu fassen und zu bestrafen und die Flüchtlinge auf ihrer Suche nach einem besseren Leben zu unterstützen, wurden die überwiegend rumänischen Asylsuchenden und vietnamesischen Arbeiter*innen abgeschoben.
Die allgemeine Reaktion auf die Anschläge in Mölln war und ist „Betroffenheit“: Stumme Trauermärsche, Menschen fassen sich an den Händen, bilden Lichterketten durch die Stadt, Kranzniederlegungen und Kerzen in ausgebrannten Wohnungstüren bilden das Stimmungsbild. Dieses von der Stadt und dem Verein „Miteinander Leben e.V.“ organisierte Gedenken wird von Jahr zu Jahr weniger. Diese Betroffenheit, sei sie aufrichtig oder geheuchelt, ist es, die es den Möllner*innen erlaubt, sich in scheinbarer Unschuld zu waschen und ihre eigene Rolle, damals wie heute, nicht zu hinterfragen.
Lange Zeit wurden Neonazis im Herzogtum Lauenburg toleriert, sogar akzeptiert. Peters, der schon seit dem ersten Tag der Pogrome in Rostock dabei war 1, wurde von den 1400 Bewohner*innen von Gudow nur „der kleine Neonazi“ genannt. Sie störten sich nicht an der Reichskriegsflagge, die aus dem Fenster seiner Wohnung hing. Sie sahen über die zerschlagenen Straßenlaternen hinweg, die nach dem nächtlichen Abmarsch der Neonazitruppe zurückblieben. Sie ignorierten die Benzinkanister, die sich neben Peters‘ Haus stapelten. „Gudow war wie Deutschland – man sah weg und hatte seine Ruhe“, schrieb der Spiegel mehrere Wochen nach den Brandanschlägen in Mölln.4
Die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen, die Brandanschläge im Herzogtum Lauenburg und anderen Städten und der offene Rassismus der Bevölkerung kamen den regierenden Parteien, die schon seit den 80er Jahren auf die Beschneidung des Grundrechts auf Asyl hinarbeiteten, zu Gute, sodass die bereits fertigen Akten zur Gesetzesänderung nur aus den Schubladen geholt werden mussten und das Asylrecht im Juni 1993 de facto abgeschafft wurde.
Die latent rassistische Grundstimmung der deutschen Bevölkerung zeigt sich auch 20 Jahre nach den Pogromen in Rostock-Lichtenhagen, wenn sich etwa Leipziger*innen über die Unterbringung von Asylsuchenden und geduldeten Menschen in „ihrer“ Straße echauffieren und sich um ihre Lebensqualität und den sozialen Frieden sorgen.
Doch nicht nur der rassistische Mob in Leipzig, der stellvertretend für den alltäglichen Rassismus in Deutschland steht, sondern auch der Staat übt sich in rassistischer Flüchtlingspolitik und Abschiebepraxis. An den von der Grenzschutzagentur Frontex gesicherten Seegrenzen der EU sterben jährlich über eintausend Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu gelangen.5
Welche Dimensionen der deutsche Rassismus annehmen kann, wurde erst kürzlich durch den quer durch Deutschland mordenden „Nationalsozialistischen Untergrund“ (NSU) und ihren Anhänger*innen sichtbar. Rassismus, der Hass auf alles „Fremde“ und Antisemitismus sind immer noch alltäglicher Bestandteil deutscher Gesellschaft und schlagen uns auf allen Ebenen entgegen.
Diesen Verhältnissen sind wir uns bewusst. Wir wollen sie analysieren, kritisieren und bekämpfen! Zur überregionalen Demonstration am 17.11. in Mölln und zur Aktionswoche vom 17.11. bis 23.11. laden wir daher ein. Starten wird die Demonstration um 12 Uhr am „Bauhof“, in der Nähe des Möllner Bahnhofs. Sagt euren Freund*Innen Bescheid!
Mehr Infos: http://ahl-antifa.org und rassismus-toetet.de
1 http://jungle-world.com/artikel/2002/47/22812.html
2 Ebd.
3 http://rassismus-toetet.de/2012/06/15/467/
4 http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13682066.html
5 http://www.proasyl.de/de/themen/eu-politik/detail/news/frontex_bootsfluechtlinge_und_die_menschenrechte (die Dunkelziffer der Verstorbenen ist wesentlich höher)