Freiheit statt Frontex

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Stellungnahme der Netzwerke afrique-europe-interact, welcome to europe und Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Quelle: http://kritnet.org/2011/freiheit-statt-frontex/

Keine Demokratie ohne globale Bewegungsfreiheit

Die Dynamik des arabischen Frühlings strahlt aus in die ganze Welt. Die Aufstands­be­we­gungen im Maghreb machen Mut und Hoffnung, nicht nur weil despotische Regime verjagt werden, die vor kurzem noch unüberwindbar erschienen. So offen die weiteren Ent­wick­lung­en bleiben, im Domino­effekt der tunesischen Jasminrevolution meldet sich in atem­be­raub­en­der Schnelligkeit die alte Er­kenntnis zurück, dass Geschichte von unten gemacht wird. Die Kämpfe richten sich gegen die täg­liche Armut wie auch gegen die allgemeine Unter­drückung, es geht gleichermaßen um bessere Lebens­bedingungen wie um Würde, kurz: um „Brot und Rosen“.

Die unglaublichen Tage auf dem Tahrirplatz in Kairo stehen für die Suche nach neuen For­men der Selbst­organisierung und Basisdemokratie. Der Wunsch nach gleichen Rechten, nach Autonomie und Teilhabe am wirtschaftlichen Reichtum, spiegelt sich aber auch in den Booten Richtung Europa wieder: jetzt aus Tunesien, seit Jahren aus Nord- und Westafrika. „Exit“ – sich die Be­weg­ungs­frei­heit zu nehmen und zu migrieren, um ein anderes, besseres Leben zu finden, und „Voice“ – die Stimme zu erheben und den Kampf vor Ort zu führen, sind keine Gegensätze, sie stehen vielmehr in einem lebendigen Wechselverhältnis.

Das hatten – noch offenkundiger – bereits die Umbrüche 1989 gezeigt. Die Abstimmung mit den Füßen katalysierte damals die Protestbewegungen gegen das realsozialistische Unter­drück­ungs­regime. Die Mauer ist auch deshalb gefallen, weil die Menschen ihre Be­wegungs­frei­heit durch­gesetzt haben. Um so verlogener erscheint heute die Freiheitsrhetorik west­licher PolitikerInnen, die an­gesichts der Migrationsbewegungen aus und über Nordafrika ein­mal mehr das Bedrohungs­szenario der Überflutung bemühen, gegen die nun die euro­päische Grenzschutzagentur Frontex in Stellung gebracht wird.

Die EU-Regierungen haben die nordafrikanischen Machthaber hofiert und gestützt und sich in den letzten Wochen zögerlich bis bremsend gegenüber den Aufstandsbewegungen verhalten. Dahinter stecken starke ökonomische Interessen, aber auch die gewachsene Kolla­bo­ration in der Migrations­kontrolle. Despoten wurden umso wichtigere „Partner“, je effektiver sie als Wachhunde für ein vor­ver­lagertes EU-Grenzregime fungierten. Migrationsbewegungen aus Afrika sollten um jeden Preis eingedämmt werden.

Tausendfacher Tod und Leid nicht mehr nur auf See, sondern auch in den Wüsten und Internierungslagern waren und sind die Folgen dieser schändlichen Komplizenschaft. Die sub­saharischen MigrantInnen, die aktuell in Libyen Opfer pogromartiger Hetzjagden werden, sahen sich unter dem Gaddafi-Regime seit Jahren einer systematischen Ent­recht­ung, Willkür und Miss­handlungen ausgeliefert. Die EU hat dem libyschen Diktator Million­en gezahlt und Überwachungs­technik geliefert, eine ähnliche Kooperation gibt es mit dem marokkanischen Machthaber, und bis vor kurzem auch mit dem tunesischen Regime. Die arabischen Revolutionen markieren jetzt das mögliche Scheitern dieses brutalen Aus­grenz­ungs­projekts der EU im Mittelmeerraum.

Mit den gezielt medial gestreuten Befürchtungen über einen Kollaps der Migrations­kon­trolle wird nun die weitere Verschärfung und Militarisierung des EU-Grenzregimes legitimiert, verkörpert durch Frontex. Die europäische Grenzschutzagentur ergänzt und er­weitert die nationalen Kontroll­systeme, die seit Jahrzehnten auf Abschreckung und Kriminalisierung der Migrationsbewegungen zielen. Frontex soll – wie bereits vor der westafrikanischen Küste oder an der griechisch-türkischen Grenze – nun auch verstärkt vor Nordafrika zum Einsatz gebracht werden.

Italien erhält die Federführung für diese „Operation Hermes“. Das ist konsequent und schockierend ehrlich: In Folge des Schulterschlusses zwischen Berlusconi und Gaddafi kam es in den letzten Jahren zu unzähligen unrechtmäßigen Rückschiebungen im Mittelmeer, der italienische Staat hat sich geradezu als Meister im Bruch aller Flüchtlingsskonventionen inszeniert. Und nicht zufällig wird kriminalisiert, wer das Leben der Boatpeople rettet. Das zeigen die Fälle der Cap Anamur oder der tunesischen Fischer, deren Prozesse in Italien noch immer andauern.

MigrantInnen suchen Schutz oder ein besseres Leben in Europa. Sie wandern gegen ein Reich­tumsgefälle, das ganz wesentlich in den neokolonialen Dominanz- und Aus­beut­ungs­verhält­nissen zwischen Europa und Afrika begründet liegt. In Europa muss sich der uni­verselle Anspruch auf Freiheit und Demokratie deshalb am Umgang mit denjenigen messen lassen, die auf dem Weg der Migration gleiche Rechte einfordern. Frontex steht für den Ausbau eines tödlichen Grenz­regimes, für das in einer freien Welt kein Platz ist. Der Tod an den Außengrenzen könnte schon morgen Geschichte sein. Aber das ist politisch nicht ge­wollt. Stattdessen führen die EU-Ver­ant­wort­lichen einen regelrechten Krieg an den Außen­grenzen.

Innerhalb der EU gehören Entrechtung und Abschiebung zum rassistischen Alltag, in dem „Integration“ als Druckmittel der Anpassung und Ausbeutung in den Niedriglohnsektoren benutzt wird. Doch dieser selektive Umgang mit Migration ist mit Widerständigkeiten und Beharrlichkeiten konfrontiert, die das System der Ungleichheiten und Unfreiheiten immer wieder herausfordern. Nicht zufällig findet in dieser bewegten Zeit ein dramatischer Hunger­streik von 300 maghreb­inischen MigrantInnen für ihre Legalisierung in Griechen­land statt. Und verstärkt flackern Bleiberechtskämpfe und migrantische Streiks quer durch Europa auf, seit Sans Papiers – ins­be­sondere aus Afrika – vor 15 Jahren in Paris mit der Forderung „Papiere für Alle“ in die Öffentl­ichkeit traten.

Der Aufbruch in Nordafrika zeigt, was alles möglich ist. Es geht um nicht weniger als um ein neues Europa, ein neues Afrika, eine neue arabische Welt. Es geht um neue Räume der Freiheit und Gleichheit, die es in transnationalen Kämpfen zu entwickeln gilt: in Tunis, Kairo oder Bengazi genauso wie in Europa und den Bewegungen der Migration, die die beiden Kontinente durchziehen.

8. März 2011
Afrique-Europe-Interact
Welcome to Europe
Netzwerk Kritische Migrations- und Grenzregimeforschung

Zur Mitzeichnung bitte eine kurze Email an fsf@antira.info schicken.